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Gerd Schneider und das Biografieproblem Gerd Schneider wurde 1908 im Mansfelder Land geboren. Dort verbrachte er auch seine Kindheit und frühe Jugend. Später besuchte er mehrfach den Norden Polens, in den 30er Jahren verlieren sich dann zunächst seine Spuren. Nach dem 2. Weltkrieg hält er sich in Süddeutschland auf, verbringt aus beruflichen Gründen mehrere Jahre in Kanada und kehrt 1961 in den süddeutschen Raum zurück. Die Erforschung der Biografie Gerd Schneiders gestaltet sich bislang sehr schwierig, da wir uns nur auf sehr lückenhaftes Material stützen können. Von großer Bedeutung sind neben dem handschriftlichen Reisebericht aus dem Jahre 1973 vor allem die Fotografien, die wir in Kanada und Duisburg entdeckten. Einige dieser Dokumente haben wir zur Ansicht ausgestellt. Einen Blick auf die heutige Situation im Mansfelder Land, die Heimat Gerd Schneiders, warf Ulf Köhler. Sein Aufsatz erschien am 18. Februar 2000 in der Zeitschrift FREITAG. |
Ulf Köhler: Die letzte Seilfahrt Zwei Besuche im Mansfelder Land. Noch nie in der 800-jährigen Bergbaugeschichte war das Gebiet so tot wie heute Manchmal genügt eine Strasse, um die Geschichte einer Stadt zu erzählen. In Hettstedt führt sie von einer kleinen Anhöhe hinab. Wie an einer Perlenkette aufgefädelt, reihen sich am Berg hinter Gartenzäunen oder Toreinfahrten: eine kleine Gärtnerei, der Kindergarten, die Berufsschule, ein Konsum und dazwischen Einfamilienhäuser. Am Ende der Strasse - die Jakobikirche mit dem Pfarrhaus. Die Türen und Fensterkreuze sind sonnengelb gestrichen. Es war bereits Nacht, als ich in Hettstedt ankam. Erster Frost lag auf der Strasse, und in der Pension zur "Kleinen Vielfalt" hing dichter Tabakrauch über den Tischen. Junge Männer beendeten ihre Diskussion über Vaterland und deutsche Nation, bezahlten und zogen grölend die Strasse hinab. Fünf Tage werde ich hier an der Hauptverkehrsstrasse, die in Richtung Harz führt, wohnen. Seit meinem letzten Besuch sind acht Jahre vergangen. Damals wollte ich Untertage, in den "Bernhard-Koenen-Schacht" in Niederröblingen, 20 Kilometer von Hettstedt entfernt. Dort sollte am 18. Dezember 1992 die letzte Seilfahrt sein. Seit 800 Jahren war der Bergbau der grösste Arbeitgeber in der Region, versorgte bis zum Ende der DDR über 13.000 Menschen; nicht nur Bergarbeiter, Hüttenleute, sondern auch Fussballer, Ärzte, Kindergärtnerinnen. 1950 erklang nach den Texten von Stephan Hermlin das Mansfelder Oratorium. Die Musik, komponiert von Ernst Herrmann Meyer, - orchestral und gewaltig. Ein Werk wider das Vergessen: Inflation, Generalstreik gegen Kapp, ein Loblied auf den Kupferschiefer und seine Bergleute. Außer einer Aktennotiz in der Stadtchronik ist vom Mansfeld-Kombinat "Wilhelm Pieck" nichts mehr übriggeblieben. Seit Jahren nun ist der Abbau eingestellt - als sogenannte Einsicht in die Notwendigkeit und schließlich im Vertrauen auf das Versprechen des damaligen DDR-Wirtschaftsministers Dr. Pohl. Im Juni 1990 schrieb er an die Bergarbeiter ein Telegramm und bat sie, Ruhe und Vertrauen zu bewahren: "Seien Sie gewiss, dass die Regierung der DDR die mit der Schließung der Mansfelder Schächte entstehenden Probleme sehr ernst nimmt und eine für alle Seiten annehmbare Lösung finden wird." Und die Kumpels vertrauten ihm, nicht ahnend, dass es die DDR wenige Monate später nicht mehr geben wird. Herbst 1992, der letzte Herbst für den Bergbau im Mansfeldischen. Über 3.000 Schächte haben sie in der Gegend gegraben. Am 18. Dezember 1992 sollte im Bernhard-Koenen-Schacht die letzte Seilfahrt sein. Der Berg würde seine Ruhe wiederbekommen und durch die Gänge Wasser fließen, für immer und ewig. Wir waren in die Tiefe gefallen, acht Meter pro Sekunde. Wind, das gleichmäßige Rütteln an den Türen, Wasserplätschern. Am Blech des Förderkorbes kleine violette, schwarz schimmernde Perlen. Früher zwängten sich hier 15 Leute rein. Und alles war Routine - jeden Tag. Die Zigarette draußen auf der Treppe zur Hängebank ausgedrückt, und dann rein ins Dunkle. Wenn die Türen aufgingen, war man im Perm, 220 Millionen Jahre zurück. Im Anhydrit, im Rotliegenden und Weißliegenden, dort liegt das Kupfer. Wir waren zu zweit in jenem Herbst 1992: Gerhard Zwanzig, 52 Jahre alt, der Obersteiger, und ich. Zwanzig kannte jeden Winkel, jede Strecke, jede Sohle. "Es war eben ein Berufsleben, mein Berufsleben. Und dass es jetzt aufhören soll, fällt schwer", erzählte er damals. Der Lebensretter klapperte an unseren Oberschenkeln. In der Zimmermannsbude - an einer rissigen Bretterwand - lächelten noch die vollbusigen Mädchen aus dem Magazin. In den Gängen roch es nach Staub und ...l. Wir waren eingeschlossen. Keinen Ton gaben die Wände zurück. Jedes Gerþusch schluckte der Berg wie eine lautlos weiße Winterlandschaft. Und dann lag vor uns im fahlen Licht der Grubenlampe eine kleine Höhle, die wie der Finger einer Hand von unserem Weg abzweigte und tiefer in den Berg führte - der Streb. Wir mussten uns bücken, um hineinzukommen. 80 Zentimeter Höhe. Selten mehr. Hier hatten sie gesessen, die Bergleute, gekauert, gehockt, gestützt auf Unterarm und Oberschenkel zwischen Stein und Stein, hatten sich Tag für Tag kilometerweit ins Mansfelder Land gefressen: unter Straßen, unter Feldern, Schulen, Kirchen. Der Bergmann klopfte mit seinem Hämmerchen an eine dunkle Stelle im Fels, zwei bis drei Zentimeter stark - das Flöz. Gerhard Zwanzig wischte den Staub ab und begann fachmännisch zu erklären. Fünf Lagen: feine Lette, grobe Lette, Kammschale, Schieferkopf und die schwarzen Berge, Flözhöhe insgesamt: 35 bis 40 Zentimeter, Kupfergehalt: von unten nach oben abnehmend, Strebbelegschaft: Sechs Männer. "Alles durch die Kraft des Bergmanns gemacht und jeder Meter Strecke mehrere Liter Schweiß und ohne die Kameradschaft hätten wir es nicht geschafft. Einer war für den anderen da. Wir waren ein Kollektiv, ein wahres Kollektiv. Doch letztlich: ohne Resultat." Das Stückchen Stein zwischen meinen Fingern war fingernagelgroß, fettig. Es ließ sich zerreiben. Dieser Schiefer könnte Geschichten erzählen von Fischen, im Kupferschlamm eingeschlossenen Farnen, aus der Erdzeit - 250 Millionen Jahre zurück. Lange hielten wir es jedenfalls nicht aus. Mir schien es, als wollte sich der Bergmann nicht mehr erinnern. 1967, kurz vor Weihnachten, der Gebirgsschlag im Flügel 15, bei dem einer seiner Kollegen tödlich verunglückte. Als ich Zwanzig darauf ansprach, drehte er sich einfach weg. Es war genug. Raus. In den fast 800 Jahren Bergbau im Mansfelder und Sangerhausener Revier wurden insgesamt über zweieinhalb Millionen Tonnen Kupfer aus dem Gestein gewonnen. Hätte man aus der gesamten Menge einen daumendicken Kupferdraht gezogen, würde dieser von der Erde bis zum Mond reichen. Das Geschäft mit dem Kupfer hatte sich schon lange nicht mehr gerechnet. Zu DDR-Zeiten brachte eine Tonne Kupfer 3.500 Westmark. Doch das Mansfeldische Erz war drei bis viermal so teuer. - Am 18. Dezember 1992 wurde der Bernhard-Koenen-Schacht geschlossen. Acht Jahre danach ist es im Mansfelder Land still geworden. 1.250 Arbeiter kümmern sich in der "Mansfelder Kupfer und Messing GmbH" um die Herstellung dünner Bleche und Rohre. Das Kupfer dazu wird importiert. Und "Aluhett", eine Firma, ausgelöst aus dem Mansfeld Kombinat, hangelt sich von einem Skandal zum anderen. In den Zeitungen wird berichtet, dass seit drei Monaten bei "Aluhett" kein Lohn mehr gezahlt wird. Wenige Meter von der Jakobikirche entfernt, an der Wilhelmstrasse, befindet sich die Pension "Kleine Vielfalt". Die Gaststätte ist schon frühmorgens Treffpunkt einiger Hettstedter. Die einen kommen vom Arzt, andere wollen zum Wochenmarkt, oder sie sind nur hier, um wieder einmal zu reden. In der "Kleinen Vielfalt" lerne ich einen Mann kennen: Mitte 40, Invalidenrentner. Er hat auf der Hütte gearbeitet. "Nenn' nicht meinen richtigen Namen, bittet er. "Wie willst du heißen?" frage ich. "Peter, Peter Mörtel" die Antwort kommt prompt. "Ist doch ein guter Name, schlie§lich war ich auch mal Maurer, habe dann umgeschult zum Metallurgen. Peter Mörtel also. Er hat direkt am Ofen gearbeitet, in der Zink-Umschmelze, hat mit seinen Kollegen den Ofen auf 480 bis 500 Grad hochgeheizt und dann die Paletten mit den Zinkpaketen rein geschoben. "Dann musste das Zink durchgerührt werden, bis die Schmelze richtig normal war." Richtig normal ... Der Mann erzählt wie ein Barkeeper über einen neu kreierten Drink. Es war eine Dreckarbeit. "Ich habe eben nach der Schicht gespürt, dass die Beine schwer werden, als ob Magnete die Füsse auf dem Boden festhalten, und jeden Tag roch ich fürchterlich aus dem Mund, wie verbrannt. Viele Leute hatten eine Bleivergiftung, bekamen Zinkfieber." Das war so ein seltsamer Schüttelfrost. "Du hast die Nacht gefroren und geschwitzt, und am Morgen war alles wieder in Ordnung." 1.500 Mark haben die Metallurgen im Dreischichtsystem in der Hütte verdient. Peter sitzt vor seinem Glas Tee, holt Tabletten aus der Tasche und rollt sich eine zum Blutverdünnen in die hohle Hand. "Der Arzt hat zu mir gesagt: Zehn Stück von dieser Sorte, und alles wäre zu Ende ... und manchmal denke ich darüber nach: Rinn' in den Brei! Und niemand würde nischt merken." Wir unterhalten uns über die Familie, seine drei Kinder, seine Frau. Nach drei Jahren Arbeitslosigkeit darf sie in einer Nachbargemeinde die Friedhöfe harken. Peter Mörtel erinnert sich an die Kollegen von damals. Gemeinsam haben sie beim Heizen des Ofens mit Bier gegen die Schwermetalle gekämpft. Schließlich wollten sie alle alt werden, ein kleines Vermögen ersparen und ein Häuschen bauen, und da kam ihnen der Rat eines alten Hüttenkumpels gerade recht. Der kþmpfte auch mit Bier gegen Arsen, Blei, Zink und hielt durch bis zur Rente. "Wir haben daran geglaubt, und heute kann man ja darüber reden", sagt der Invalidenrentner und erzählt, dass er trotz seiner Herzkrankheit alles wieder genauso machen würde und lieber in der Hütte arbeiten, als zu Hause sitzen möchte. Mörtels Schmelzhütte "Am Kupferberg" ist verwaist - der blubbernde, metallspuckende Industrievulkan - erloschen. Die Zeiger der elektronischen Uhr am Hauptgebäude haben irgendwann kurz vor neun angehalten. Seitdem hängt sie da oben und wird zur Zielscheibe der Rabauken, die über den Zaun springen und Scheiben einschlagen. Die Gegend gleicht einem angebrannten Topf. An den steilen Rändern kleben kleine bewohnte Häuschen. Hinter den Gardinen spüre ich Bewegung. Jemand beobachtet mich. Mein Blick vom Kupferberg über die graue verschlissene ausgerauchte Industriebrache, endet am Horizont bei den neuen blauen Hallen von MKM. Die Hänge mit den stahlgrauen Halden liegen auf der anderen Seite, an der Strasse in Richtung Eisleben. "Und stehen sie dort am Maschinendenkmal und drehen sich einmal um die eigene Achse, dann haben sie alles gesehen. Die ganze Geschichte des Kupferschieferbergbaus vom Anfang bis zum Ende." Der Mann kann Wetten gewinnen. Jeden Schacht erkennt er an der Form der Abraumhalde. Otto Spieler. Er ist in der CDU und verwaltet auf Zetteln und in Schulheften die Geschichte der Stadt. Jahrelang hat er selbst im Walzwerk gearbeitet, ist in der Gegend aufgewachsen und betreut heute Häuser der Hettstedter Wohnungsgesellschaft. Ich frage ihn nach dem schwarzen Stein, mit dem die Bergleute ihre Häuser bauten. "Schlackestein." weiß Otto Spieler. "Nahezu alles, was aus der Hütte kam, wurde verwertet. Bevor die glühende Steinmasse aus dem Ofen auf irgendwelchen Halden erstarrte, gossen sie die Hüttenmþnner in spezielle Formen. Die Grösse des Steins bestimmte später den Einsatz: Hausbau oder Strasse." Noch um die Jahrhundertwende nutzten die Hüttenarbeiter die heiße Schlacke, um ihre Wohnungen zu heizen. Und 1856 hatte der Bürgermeister Hettrich eine besondere Idee. Er ließ die glühende Schlacke der Hütten in das kalte Wasser eines Bassins werfen und beschwor die heilende und prophylaktische Wirkung der Schwefeldþmpfe. Das funktionierte bis 1863, dann kam der Eigentümer und Bürgermeister Hettrich bei einem Unfall ums Leben und mit ihm: 27 Hettstedter. Sie alle aßen "Knätzchen", so nennen die Einheimischen noch heute ihre Hackepeterstullen. Doch das Gehackte war damals mit Trichinen verseucht. Nach der Trichinenendemie in Hettstedt wurde das preu§ische Fleischbeschauungsgesetz erlassen. Noch heute erinnert im Stadtpark ein Gedenkstein an die Toten von 1863. Vom einstigen Schlackebad jedoch ist nichts mehr zu sehen. Noch nie in der 800-jährigen Bergbaugeschichte war das Gebiet so tot wie heute. Junge Leute verlassen die Stadt, gehen über den Harz in den anderen Teil Deutschlands. In manchen Monaten beträgt die Arbeitslosigkeit bis zu 50 Prozent. Der junge Pastor Sebastian Bartsch musste lernen, dass die Menschen hier mehr soziale Betreuung, denn religiösen Beistand brauchen. Da werden Miete, Kleidung und Obdach wichtiger als die Bibel, wichtiger als Gott. Bartsch nimmt es gelassen. Er vergleicht das Leben vieler in der Südharzregion mit dem Bild des Sämanns in der heiligen Schrift, der sein Feld bestellen will, seinen Samen auswirft; doch viele Körner fallen auf felsigen Boden. Hoffnung allein macht eben nicht satt. Im Pfarrhaus mit seinen sonnengelben Fensterrahmen wohnt der Pastor im ersten Stock. In seiner Wohnstube hat er einen Flügel, eine elektronische Gitarre, ein paar Schallplatten. Einen Fernseher gibt es nicht. Für den Blick in die Welt gestattet sich Sebastian Bartsch ein großes Fernrohr. Er braucht es für seine Weltsicht, richtet das grosse Objektiv in die Weite des Nachthimmels, um den Meteoritensturm zu beobachten. Weil auch ein Pfarrer bei jedem silbrigen Schweif am Firmament einen Wunsch frei hat. Die fünf Tage in Hettstedt sind schneller vergangen, als ich annahm. An einem Freitag gegen 16 Uhr verlasse ich die Stadt. Ob ich wieder mal reinschaue, fragt die Wirtin. "Sicherlich!" Ich blicke in die Runde fast alle sind da. Es ist wie an jedem Morgen, nur Peter Mörtel fehlt. Er wird etwas anderes zu erledigen haben, dachte ich bei mir und erinnerte mich an ein Gespräch mit einem Hettstedter am Anfang der Woche. Damals suchte ich einen Hüttenarbeiter. "Da wirst du es schwer haben, viele von denen sind schon lange tot, haben zehn, fünfzehn Jahre ihres Lebens verkauft und liegen da oben!" Er wies auf die Anhöhe über der Stadt. Die Jakobistrasse führt dorthin, immer bergauf. Es ist der schwierigste Weg hier in Hettstedt am Haus des Pastors vorbei, lässt er das ehemalige Krankenhaus, die Berufsschule, den Kindergarten für immer zurück. Aus: "FREITAG", 18. Februar 2000, Autor: Ulf Köhler
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